EMOTIONEN UND GEFüHLE: »ANGST MACHT UNS DüMMER«

Debatten enden häufig im Streit. Damit ein Dialog gelingen kann, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, müssen wir »radikal emotionaler« sein.

SPIEGEL: Frau Urner, als Neurowissenschaftlerin haben Sie sich mit der Macht der Emotionen beschäftigt und behaupten, die Frage »Wie geht es dir?« sei die politischste, die man einem Menschen stellen könne. Wie geht es Ihnen?

Urner: Wenn ich Bilder von Waldbränden, Dürren sehe oder von Menschen, die ihre Heimat verloren haben, spüre ich Schmerz. Das belastet mich. Wenn ich das zulasse, kann es zu Tränen und Trauer führen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm dieser Schmerz für diejenigen sein muss, deren Heimat zerstört ist.

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SPIEGEL: Ihr neues Buch trägt den Titel »Radikal emotional: Wie Gefühle Politik machen«. Was meinen Sie damit?

Urner: Viele Menschen denken oder hoffen zumindest, gute Politik sei eine rationale Angelegenheit. Doch das stimmt nicht. Politik ist eine der persönlichsten Angelegenheiten, die es gibt. Schließlich geht es im Kern darum, wie wir zusammenleben und in Zukunft leben werden. Es geht um Ängste und Sorgen, um Werte, die wir richtig oder falsch finden – also um Emotionen. Mit »radikal emotional« meine ich, dass wir uns ehrlicher den Emotionen bewusst werden müssen, die unsere Überzeugungen prägen. Nur so können wir einen echten Dialog führen.

SPIEGEL: Wir leben in emotional aufgeheizten Zeiten. Wäre nicht Sachlichkeit das Gebot der Stunde?

Urner: Ich kann nur sachlich argumentieren, weil ich bestimmte Werte und damit verbundene Überzeugungen und Emotionen habe. Jede Entscheidung basiert auf meiner Fähigkeit, zwischen – emotional – wichtig oder weniger wichtig zu unterscheiden. Menschen mit einer Schädigung in dem Hirnbereich, in dem emotionale und faktenbasierte Verarbeitung zusammenkommen, können sich nicht einmal mehr entscheiden, mit welcher Stiftfarbe sie einen Brief unterschreiben sollen. Es fehlt eine Vorliebe, also eine emotionale Wertigkeit, die eine Entscheidung ermöglicht. Mit »radikal emotional« meine ich, dass wir uns ehrlicher den Emotionen bewusst werden müssen, die unsere Überzeugungen prägen. Nur so können wir einen echten Dialog führen.

SPIEGEL: Manchmal scheint es bei Debatten vor allem darum zu gehen, wer am lautesten schreit.

Urner: Richtig. Denn wenn wir die emotionalen Wurzeln unserer Argumente ignorieren, verstehen wir die wahren Beweggründe nicht. Ein sachlicher Austausch setzt voraus, dass wir verstehen, warum wir und andere so denken und fühlen, wie wir es tun. Erst wenn wir diese Ebene erreichen, können wir zu einer konstruktiven Diskussion finden.

SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?

Urner: Nehmen wir etwa die Debatte über unsere zukünftige Energieversorgung angesichts des aktuellen Klimanotfalls. Der eine Politiker fordert, die Energie müsse möglichst günstig bleiben. Er hat vor allem kurzfristige Ziele im Blick, hat Angst vor akuter Veränderung, möchte die Bürgerinnen und Bürger und die Industrie nicht verunsichern, auch seine Wiederwahl dürfte ein Motiv sein. Der entscheidende Wert für seine Überzeugungen und seine Argumente ist also kurzfristige Stabilität. Die andere Politikerin hat eine längerfristige Perspektive: Sie möchte jetzt radikale Maßnahmen für den Klimaschutz, damit wir auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Zugang zu nachhaltiger Energie haben. Sie berechnet die Kosten der Klimafolgeschäden mit ein. Sie argumentiert, dass Veränderungen jetzt notwendig sind, um langfristig Stabilität zu ermöglichen.

Beide wollen im Prinzip das Gleiche – ein gutes Leben ermöglichen. Die zugrunde liegenden Werte werden jedoch häufig nicht offengelegt, sondern schlichtweg behauptet, das eigene Argument sei das Beste. Wenn das nicht durchdringt, wird lauter und hitziger geschrien. Das Absurde dabei ist: Je lauter die Forderung nach Rationalität, desto emotional aufgeladener werden die Debatten. Die Werte liegen häufig gar nicht so weit auseinander, wie es parteipolitisch oft scheint.

SPIEGEL: Sie sagen, dass Ängste unsere Werte prägen. Wieso hat Angst einen so großen Stellenwert?

Urner: In den Neurowissenschaften schauen wir oft auf Menschen, bei denen bestimmte Hirnregionen beschädigt sind, um zu verstehen, wie normalerweise funktionierende Prozesse ablaufen. Aus den USA ist der Fall einer Frau bekannt, die aufgrund einer seltenen Krankheit keinerlei Angst empfindet. In ihrem Gehirn ist beidseitig die Amygdala zerstört, also der Angstkern. Diese Frau lebt hochgefährlich, weil sie sich ständig unbewusst in Gefahren begibt. Angst ist ein wichtiger Mechanismus, der uns am Leben hält.

SPIEGEL: Und trotzdem sind manche Menschen ängstlicher als andere.

Urner: Genetik, Umwelt und die Interaktion beider beeinflussen unser Angstniveau und unseren Umgang damit. Unser Angstempfinden ändert sich täglich, je nachdem, was in unserem Leben aktuell passiert. Ein radikal emotionaler Umgang mit Angst, zu dem ich einlade, bedeutet, dass wir lernen, Angst zu erkennen und sie zu benennen, anstatt sie zu verdrängen oder zu überdecken. Letzteres führt häufig dazu, dass sich die Angst verschlimmert. Wir sollten lernen, konstruktiv mit unserer Angst umzugehen.

SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, es gebe keine negativen Emotionen. Was ist mit Wut?

Urner: Genau wie bei Angst sollten wir uns bei Wut fragen, woher sie eigentlich rührt. Vielleicht daher, dass wir uns ungerecht behandelt fühlen? Aus Wut kann Kraft zur Veränderung zu einem gerechteren Zusammenleben geschöpft werden. Genau das lehrt uns die Geschichte der Menschheit. Nehmen wir das Thema des Frauenwahlrechts: Frauen waren wütend, weil sie nicht wählen durften. Sie haben aus dieser Wut heraus Kraft geschöpft für einen intensiven Kampf, der in vielen Ländern dazu geführt hat, dass das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde. Ohne diese Wut wäre nichts passiert.

SPIEGEL: Und Hass?

Urner: Hass, der nicht hinterfragt wird, führt nicht zu konstruktiven Lösungen. Häufig ist Hass das Resultat einer langen Kette von Ereignissen oder eines anhaltenden Zustands von Emotionen wie Angst, Wut, Ärger, Frustration oder Herablassung, mit denen nicht gut, also nicht emotional reif, umgegangen wurde. Dabei ist es nicht immer das Verschulden des Individuums; es kann auch viel mit gesellschaftlichen Zwängen zu tun haben. Menschen, die durch ihre Umgebung in Extremsituationen gebracht werden, können Hass entwickeln, zum Beispiel auf Menschen, die sie eingesperrt, misshandelt oder auf andere Weise schlecht behandelt haben. So ist Hass im politischen Kontext hochrelevant und wichtig, weil er oft eine Rolle bei der Entstehung von Kriegen und Auseinandersetzungen spielt.

SPIEGEL: Was folgt daraus?

Urner: Forschungsergebnisse aus Jahrzehnten zeigen uns, was Angst mit uns macht: Sie macht uns dümmer, weil wir auf das unmittelbare Überleben zurückgeworfen werden und nicht mehr langfristig planen können. Unser IQ sinkt statistisch signifikant, wenn wir in einer ängstlichen Stimmung sind – zum Beispiel nach dem Konsum von negativen Nachrichtenvideos. Chronische Angst führt zu einer Überlastung mit Auswirkungen auf viele körperliche Funktionen. So fehlen dem Gehirn die notwendigen Regenerationsphasen. Wenn unser Körper nicht vom angespannten in einen entspannten Zustand herunterfahren kann, fehlt die Erholung, und das fördert diverse Krankheiten und steigert die Angst. Ein Teufelskreis.

SPIEGEL: Angesichts der globalen Krisen fällt es vielen schwer, positiv zu bleiben. Als Medienpsychologin betonen sie immer wieder, wie wichtig es ist, konstruktiv zu denken. Wie soll das gehen?

Urner: Konstruktiv und positiv ist nicht das Gleiche, haben aber miteinander zu tun. Die Gleichzeitigkeit und Aneinanderreihung von Krisen wie Ukrainekonflikt, Nahostkrise und Klimakrise ist für das Gehirn schlichtweg zu viel. Wir fühlen uns häufig machtlos und sehen keine Möglichkeit, die Lage zu verbessern, weil sie einfach zu komplex erscheint. Gegen dieses Gefühl der Hilflosigkeit hilft konstruktives Denken. Das bedeutet, stets zu fragen: Was kann ich beitragen? Und: Welche Informationen helfen mir, die Welt besser zu verstehen und handlungsfähig zu bleiben?

SPIEGEL: Es gibt viele Bereiche, in denen man sich engagieren und so das Gefühl bekommen könnte, etwas Sinnvolles zu tun. Doch allein wird man die Welt nicht retten.

Urner: Das stimmt. Gleichzeitig ist bei diesem Gedanken die sogenannte pluralistische Ignoranz präsent. Also die Annahme, dass die meisten Menschen anders denken, fühlen und handeln würden als man selbst. Studien zeigen, dass die große Mehrheit der Menschen die Überzeugungen anderer häufig falsch einschätzt. Vor allem, wenn es um Veränderungen und die Bereitschaft dazu geht. Unser Bild von der Welt ist oft nicht aktuell, besonders in Bezug auf große gesellschaftliche Themen. Studien aus den USA, in denen Menschen gefragt wurden, ob sie bereit sind, eine radikale Klimapolitik zu unterstützen, zeigen etwa, dass sehr viel mehr Menschen dazu bereit sind, als jeder Einzelne annimmt.

SPIEGEL: Wie kann ich erkennen, ob ich alleinstehe oder Teil einer Gruppe bin, die gemeinsam etwas bewirken kann?

Urner: Zunächst muss ich meine eigenen Überzeugungen für mich klären, denn nur dann kann ich im zweiten Schritt ehrlich mit anderen darüber sprechen. Im dritten Schritt geht es darum zu erkennen, dass die häufig genutzten Dichotomien sinnlos sind, also die vermeintliche Trennung zwischen zwei Bereichen. Unsere Gefühle und unser Verstand, unsere Privatangelegenheiten und die Politik, Mensch und Natur – alles ist miteinander verbunden und voneinander abhängig. Jede Entscheidung, die ich treffe, hat Folgen in mir und in der Welt.

SPIEGEL: In Ihrem Buch verwenden Sie das Wort »radikal« 258-mal. Sind Sie selbst radikaler geworden?

Urner: Die kurze Antwort ist: Ja. Radikal bedeutet sinngemäß, an die Wurzel zu gehen. Ich lade dazu ein, genau das mit Blick auf gesellschaftliche Zustände zu tun, um sie hinterfragen und neu justieren zu können.

SPIEGEL: Was gibt Ihnen Hoffnung?

Urner: Es gibt ein Zitat von Václav Havel, das ich in meinem Buch verwende und das mich tief berührt: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, unabhängig davon, wie es ausgeht.« Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich an seine Worte denke. Hoffnung ist die Entschlossenheit, aus der Resignation herauszukommen und sich der Realität zu stellen. Das ist das beste Gefühl, das ich als Mensch erleben darf: gemeinsam mit anderen zu handeln und zu fragen, was wir beitragen können. Es mag sich pathetisch oder naiv anhören – doch als Neurowissenschaftlerin weiß ich: Es ist dieses gemeinschaftliche Gefühl, das uns Menschen ausmacht, weil es tief in unserer Biologie verankert ist.

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